Innerer Wachhund
- Andrea
- 20. Apr. 2021
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 21. Juli 2021
In der Schule im Biologie-Leistungskurs habe ich gelernt, dass unser vegetatives Nervensystem (VNS) aus dem Sympathikus und dem Parasympathikus besteht, wobei ersterer für Anspannung und der Gegenspieler Parasympathikus für die Entspannung zuständig ist. Unser Nervensystem kümmert sich Tag und Nacht wie ein Wachhund um unsere Sicherheit, indem es permanent alle Eindrücke aus der Umgebung auf Gefahren hin filtert. Wie so oft ist unser Denken dual ausgerichtet, es scheint nur schwarz oder weiß, gut oder böse, richtig oder falsch und nichts dazwischen zu geben. Das ist vielleicht eine Erklärung dafür, warum die dritte Funktion unseres Nervensystems so lange übersehen wurde, in der Kynologie (Hundewissenschaft) allerdings schon längst bekannt war. Die mobilisierende Funktion des Sympathikus wird unterschieden in Kampf und Flucht und so spricht man in der Hundewissenschaft von den 4 F´s als mögliche Reaktion einen Hundes auf einen Reiz:
FIGHT
FLIGHT
FIDDLE/FLIRT
FREEZE
Mit fiddle und flirt ist das Sozialverhalten des Hundes gemeint, das unter anderem aus Spielaufforderungen und Annäherungsversuchen besteht, vergleichbar mit dem sogenannten Social-Engagement-System (SES) bei Menschen, das immer dann aktiviert wird, wenn wir uns wohl und sicher fühlen.

Meldet das Nervensystem des Hundes eine Gefahr, entscheidet er sich blitzschnell für eine der übrigen drei genannten Reaktionen, zu flüchten, zu kämpfen oder zu erstarren, viele Tiere stellen sich regelrecht tot.
Die letzte Möglichkeit als Reaktion auf eine Gefahr wurde bei uns Menschen lange Zeit völlig ignoriert, dabei haben wir doch auch ein Säugetiergehirn. Der amerikanische Professor für Psychiatrie Stephen W. Porges identifizierte dieses dritte Reaktionsmuster unseres Nervensystems als Doppelrolle des Entspannungsnervs. Der Parasympathikus ist einerseits für die Entspannung zuständig und andererseits für die komplette Lahmlegung, was einem Totstellen in ausweglosen Situationen gleichkommt.
Der wichtigste Nerv des Parasympathikus ist der Vagusnerv, der 10. Hirnnerv. Der Name "umherschweifender Nerv" lässt schon erahnen, dass er an mehr Körperfunktionen beteiligt ist, als die Wissenschaft bis dahin ahnte.
Stephen Porges unterteilte den Vagusnerv in den vorderen (ventralen) und hinteren (dorsalen) Ast. Als grobe Orientierung sei gesagt, der vordere Ast bewegt sich eher Richtung Kopf, während der hintere Ast eher nach unten orientiert ist. Herz und Lunge werden von beiden beeinflusst. Der vordere Vagusnerv verarbeitet Informationen, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen. Der hintere Vagus ist mit Magen, Leber, Bauchspeicheldrüse, Milz und Dickdarm verbunden.
Meldet das VNS keine Gefahr, sorgt der vordere oder auch jüngere Ast des Parasympathikus dafür, dass wir schnell auf unsere Umgebung eingehen und mit Menschen in Beziehung treten können. Er kann die Herzfrequenz schneller regeln als der Sympathikus. Wird hingegen eine Gefahr gemeldet, übernimmt der Sympathikus das Kommando: das Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt, die Atmung wird kurz und flach, der Körper ist bereit zum Kampf oder zur Flucht. Scheint die Situation hingegen ausweglos, Flucht und Kampf also zwecklos, legt der dorsale ältere Teil des Parasympathikus alles lahm, das kann Ohnmacht oder ein Schockzustand sein.
Wenn sich die drei Reaktionen des Nervensystems immer wieder abwechseln, dann fühlen wir uns wohl in unserer Haut und sind gesund, problematisch wird es natürlich, wenn unser Nervensystem bereits beim kleinsten Auslöser an eine gefährliche Situation aus der Vergangenheit erinnert wird und eigentlich grundlos mit Kampf, Flucht oder Schockstarre reagiert.

Der hintere Parasympathikus-Ast wirkt gegen physische und psychische Schmerzen. Man kann sich die drogenähnliche Wirkung bei ständiger Aktivierung durchaus vorstellen. Dieser Ast übernimmt im nicht aktivierten Zustand die Steuerung der Verdauung, was natürlich bedeutet, dass die Verdauung im aktiven Zustand eingestellt ist. Als unser Hund zu uns kam, wog er 11 Kilo und war sehr dünn. Nach nur 2 Wochen wog er 15 Kilo, er hat also fast ein Drittel seines Körpergewichts zugenommen. Die Vorbesitzer sagten, dass er immer viel gefressen hatte, oftmals sogar noch das Futter des Zweithundes. An meinem eigenen Hund konnte ich also bereits sehen, welche Macht das Nervensystem hat und wie schnell sich ein beruhigtes Nervensystem auf den Körper auswirkt.


In meinem letzten Beitrag ging es auch bereits um dieses Thema, denn wenn wir in einer Schockstarre sind, wird kein Speichel produziert. Andererseits speicheln Hunde vermehrt in Situationen, in denen sie aufgeregt sind wie beim Autofahren zum Beispiel oder bei Begegnungen mit anderen Hunden, ein Hinweis darauf, dass in diesen Situationen nicht der Parasympathikus, sondern der Sympathikus aktiv ist.

Die Entdeckung der Polyvagaltheorie ist vor allem im Bereich Traumatherapie überaus wichtig. Sie erklärt, warum Traumapatienten für viele psychotherapeutische Methoden nicht zugänglich sind, da sie sich fast permanent in einer Schockstarre befinden und weder Zugriff auf Gefühle noch auf Erinnerungen haben. Porges fand heraus, dass mithilfe von Musik im Frequenzbereich der menschlichen Stimme das Social Engagement System, also der vordere Ast des Parasympathikus aktiviert werden kann. Während des Schreibens fällt mir der Zusammenhang zu EMDR auf. Durch die Augenbewegung wird der vordere Vagusnerv aktiviert, der hintere somit deaktiviert und der Mensch kommt aus seiner Schockstarre heraus.
Für Gopal Norbert Klein geschieht Heilung durch Verbundenheit mit anderen Menschen. Das Eingebundensein in eine Gemeinschaft gibt Sicherheit und beruhigt das Nervensystem. Die Komplexität unseres Nervensystems und unseres ganzen Körpers macht klar, dass Gesundheit von viel mehr als der Abwesenheit von schädlichen Viren und Bakterien abhängt.
Da sind wir wieder bei den Hunden, ihr Wohlbefinden steht und fällt mit der Zugehörigkeit zu einem Rudel, ohne die Zugehörigkeit zu einem Rudel hat ein Hund zu Recht Todesangst.
Quellen:
https://xn--hrv-herzratenvariabilitt-dcc.de/2019/03/eine-kurze-einfuehrung-in-die-polyvagal-theorie/
Klein, Gopal Norbert: Heilung von Beziehungen I
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